Wie Nils Cordua den EU-Stresstest seitens ENSI begleitet hat

Nils Cordua, ENSI

Nils Cordua hat als Projektleiter im ENSI den EU-Stresstest in der Schweiz begleitet. Er arbeitet seit 2010 bei der Aufsichtsbehörde und ist heute Fachspezialist für Systemtechnik. Im Interview erinnert er sich, wie er die damalige Situation erlebt hat.

Nils Cordua, wie sind Sie kurzfristig Projektleiter geworden und wie war Ihr Einstieg in diese Aufgabe?

In der Zeit vor dem Ereignis in Fukushima war das ENSI dabei sich auf die Errichtung neuer Kernkraftwerke in der Schweiz vorzubereiten. In der Sektion neue Kernkraftwerke (NKKW), in der ich tätig war, waren wir damit beschäftigt neue Reaktorkonzepte zu bewerten und die Regelwerksanforderungen an neue Kernkraftwerke festzulegen. Da ich als Projektleiter bereits mit den Sektionen, die für den EU-Stresstest benötigt wurden, gut zusammengearbeitet habe, hatte ich das Glück für diese anspruchsvolle Aufgabe ausgewählt zu werden.

Wie haben Sie die damalige Situation erlebt?

Ich kann mich an den Morgen des Freitags, den 11. März 2011 erinnern, als erste Informationen über die Situation in Japan kamen und zu Nervosität im ENSI führten. Am Nachmittag war mir bereits klar, dass es keine neuen Kernkraftwerke in der Schweiz geben wird, wenn es zu einer Kernschmelze in Japan kommt. Den Abend und das gesamte Wochenende habe ich fast ununterbrochen die Situation in den Medien verfolgt und mit Freunden in Japan gesprochen. Die Vorkommnisse haben mich erschüttert.

Wie ist das ENSI damals mit dem Druck umgegangen?

Rückblickend muss ich sagen, dass das ENSI sehr professionell reagiert hat. Die Situation war insbesondere in den ersten Tagen schwer zu beurteilen, da es eine Reihe von fehlenden bzw. widersprüchlichen Informationen aus unterschiedlichsten Quellen gab. Das ENSI hat es sehr schnell geschafft, ein Team zur Verfolgung und Bewertung des Ereignisses aufzubauen und hat bereits nach einer Woche die erste Verfügung erlassen, in der Überprüfungen angeordnet und erste weitere Verbesserungen, wie das Notfalllager in Reitnau, initiiert wurden.

Wie war die Taskforce zusammengestellt? Welche Expertise brauchte es?

Nun, der EU-Stresstest war entsprechend der Ereignisse in Japan darauf fokussiert die Auslegung der Kernkraftwerke gegen Erdbeben und Hochwasser, den Verlust von Strom und Wärmesenke sowie die Unfallbeherrschungsstrategien erneut kritisch zu bewerten. Die Taskforce war dementsprechend mit Experten des ENSI in diesen Gebieten besetzt. Bzgl. der bautechnischen Bewertungen wurden zusätzlich externe Experten eingebunden.

Welches war die grösste Herausforderung und wie ist man ihr begegnet?

Der EU-Stresstest unterschied sich in zwei Punkten gegenüber den üblichen Arbeiten: dem sehr engen Zeitrahmen und der Methodik. Der Zeitrahmen wurde extern durch die WENRA und ENSREG festgelegt und war sehr ambitioniert. Es musste anhand der vorgegebenen Frist festgelegt werden, welche Form von Analysen sinnvoll und möglich ist und die Prüftiefe konnte somit nicht frei gewählt werden. Es war sehr anspruchsvoll den Bericht innerhalb der vorgegebenen Zeit fertigzustellen, so dass wir von Anfang an bis zum Abgabetermin am 31.12.2011 sehr unter Druck standen. Nach dem EU-Stresstest wurden, wie in den vorherigen Artikeln geschildert weitere vertiefende Überprüfungen durchgeführt. Die Methodik unterschied sich insofern, als das bei den Analysen die Störfallsituation jeweils soweit verschärft werden sollte, bis sogenannte Cliff-Edge-Effekte, d.h. Situationen mit einem Versagen von Vorsorgemassnahmen und einer massiven Verschlechterung eintreten. Auf diese Weise sollten Extremsituationen bewertet werden, die deutlich oberhalb der bisherigen Auslegung einschliesslich konservativer Sicherheitszuschläge lagen, um so weitere Verbesserungsmöglichkeiten zu eruieren.

Was bedeutet das Ereignis in Fukushima für Sie persönlich?

Die Ereignisse in Fukushima haben mich erschüttert, da es ein hochentwickeltes und technisiertes Land getroffen hat und damit meine eigenen Sichtweisen in Frage gestellt wurden. Aufgrund des Ereignisses, sowie aufgrund der hohen Investitionskosten bei Neuanlagen, wurde hiermit der Ausstieg aus der Kerntechnik im deutschsprachigen Raum eingeleitet. Im Rahmen eines 6-monatigen Erfahrungsaustausches in 2018/19 bei der japanischen Aufsichtsbehörde NRA (原子力規制委員会) hatte ich die Möglichkeit einen sehr persönlichen Einblick in die Folgen des Unfalls und die seitdem umgesetzten Verbesserungsmassnahmen in Japan zu gewinnen. Obwohl ich bereits über ein Jahrzehnt in der Kerntechnik gearbeitet hatte, habe ich bei meinem Besuch in Fukushima zuerst begriffen, was ein auslegungsüberschreitender Störfall wirklich bedeutet. Es war für mich die bislang lehrreichste Zeit meines Berufslebens. Wir dürfen das Ereignis nicht vergessen und müssen unser Bestes geben, damit sich ein solches Vorkommnis nirgends wiederholt.

Dieses Interview gehört zum dritten Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011.