„Überraschungen sollten immer offen diskutiert werden und führen dann zu Projektverbesserungen“
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat für die Beurteilung des Standortvorschlags von der Nagra eine Nachforderung gestellt. Es stützt sich dabei auch auf die Arbeit der Professur für Ingenieurgeologie der ETH Zürich. Im Interview erklärt deren Leiter Simon Löw, was aus seiner Sicht gefehlt hat.
Die Nachforderungen des ENSI stützen sich auch auf Ihre Beurteilung. Was ist Ihre Hauptkritik an den Unterlagen der Nagra?
Simon Löw: Die verwendeten Daten sind teilweise nicht belastbar und das Vorgehen – welches sich zwar auf sehr viele verschiedene Methoden stützt – ist nicht genügend systematisch und robust.
Warum kommen diese Erkenntnisse erst ein halbes Jahr nach Beginn der Prüfung?
Eine seriöse Prüfung erfordert nicht nur das Lesen der Hauptberichte, sondern auch die Analyse der Primärdaten und Modellrechnungen. In diesem Fall handelt es sich um etwa 40 Berichte. Im Weiteren müssen auch unsere Resultate und Stellungnahmen einer internen fachlichen Prüfung unterzogen werden.
Betroffen ist der Indikator „Tiefenlage im Hinblick auf bautechnische Machbarkeit“. Um was geht es dabei konkret?
Dieser Indikator legt fest, wie die negativen baulichen Auswirkungen auf das Wirtsgestein zu bewerten sind, respektive bis in welche Tiefe sinnvollerweise ein Hochaktiv- oder ein Schwach- und Mittelaktivlager noch gebaut werden sollte. Dieser Indikator ist für die Bewertung der verschiedenen Standortgebiete zentral, da die Tiefe das vorhandene Platzangebot stark beeinflussen kann.
Was genau muss die Nagra zu diesem Indikator nun zusätzlich erarbeiten und dokumentieren?
Eine systematische Analyse der Gefährdungsbilder und der Massnahmen zur Bewältigung ihrer negativen Auswirkungen, eine objektive Analyse der Unsicherheiten von felsmechanischen Kennwerten in relevanten Tiefenbereichen und vieles mehr. Wir wollen der Nagra aber nicht zu viele operationelle Vorgaben machen.
Sie arbeiten mit Ihrem ETH-Institut für Ingenieurgeologie als Experte für das ENSI. Worauf stützt sich die Erfahrung ihres Instituts ab – ein Tiefenlager in Opalinuston ist ja noch nirgends in Betrieb?
Wir erforschen seit rund 15 Jahren die felsmechanischen Eigenschaften des Opalinustons. Zudem bin ich mit zwei meiner Oberassistenten als Experten für verschiedene Tunnelbauprojekte im In- und Ausland tätig gewesen.
Aus dem Felslabor Mont-Terri und anderen Projekten weiss man, dass der Opalinuston bautechnisch nicht einfach ist. Nun kritisieren sie mit Ihrem ETH-Institut die zugehörigen Arbeiten der Nagra – ist grundsätzlich ein Fragezeichen hinter dieses Wirtgestein zu setzen?
Nein keinesfalls. Der Opalinuston ist ein fast ideales Wirtsgestein. Wir kritisieren auch nur einen kleinen Teil der Arbeiten der Nagra. Dank der Nagra verfügt die Schweiz über eines der weltweit besten Entsorgungsprogramme.
Es gibt Aussagen, dass man mit modernen Mitteln auch in 1000 Meter Tiefe ein Tiefenlager bauen kann – teilen sie diese Ansicht?
Nein, diese Ansicht teile ich für den Opalinuston nicht, da ein Endlager für Hochaktivabfälle bezüglich der Anforderungen nicht mit einem konventionellen Untertagebauwerk verglichen werden kann.
Die Thematik scheint für einen Aussenstehenden sehr komplex und theoretisch zu sein – muss man sich beim Bau eines Tiefenlagers auf weitere Überraschungen gefasst machen?
Grundsätzlich ja. Ein solches Projekt kann nicht auf Erfahrungen vergleichbarer Projekte abstellen. Überraschungen sollten immer offen diskutiert werden und führen dann zu Projektverbesserungen. Dies ist in der Vergangenheit oft geschehen.
Seine Forschung konzentriert sich auf hydro-mechanische Prozesse in geklüfteten Gesteinen auf projektrelevanten Massstäben. Grössere aktuelle Forschungsprojekte befassen sich mit Setzungen über tiefliegenden Tunnelbauwerken, mit hydro-mechanischen Prozessen im Nahfeld von Tunnels und Endlagerstollen, mit Grundwasser- und Wärmefluss in geklüfteten und porösen Gesteinen (insbesondere EGS Systeme) sowie mit den Ursachen und der Prognose von Felsinstabilitäten. Die von Simon Löw geleitete Forschungsgruppe ist interdisziplinär zusammengefasst und umfasst rund 25 Ingenieurgeologen, Hydrogeologen, Physiker und Felsmechaniker.
Er ist nebenbei als internationaler Experte im Bereich der nuklearen Endlagerung, tiefliegender Tunnelbauwerke und Massenbewegungen im Fels tätig und Mitglied vieler nationaler und internationaler Kommissionen. Zurzeit präsidiert er die nationale Expertenkommission für Geologische Tiefenlagerung EGT.