Grenzwert der Radioaktivität hängt von der Häufigkeit des Ereignisses ab

Beim Schutz von Kernkraftwerken geht es in erster Linie darum, die radiologischen Auswirkungen für Mensch und Umwelt auch im Notfall tief zu halten. Entsprechend hat der Gesetzgeber Grenzwerte für die Freisetzung von Radioaktivität festgelegt. Die Betreiber müssen bei ihren Sicherheitsnachweisen belegen, dass sie diese einhalten.

ENSI kann Ausbreitung radioaktiver Stoffe berechnenNach jedem schweren Ereignis in einem ausländischen Kernkraftwerk muss die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke neu überprüft werden. Dies schreibt die Ausserbetriebnahmeverordnung des Bundes vor. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat deshalb nach dem Unfall von Fukushima unter anderem auch eine erneute umfassende Analyse der Erdbebensicherheit angeordnet. Die Schweizer Kernkraftwerke mussten zeigen, dass die Dosis bei der Freisetzung von Radioaktivität in der Umgebung auch bei einem Erdbeben, wie es sich höchstens einmal in 10‘000 Jahren ereignet, unterhalb des Grenzwerts von 100 Millisievert bleibt. „Diesen Grenzwert halten die Schweizer Kernkraftwerke bei Weitem ein“, hält Georg Schwarz, stellvertretender ENSI-Direktor und Leiter des Aufsichtsbereichs Kernkraftwerke fest.

Die Schweiz kennt drei verschiedene Dosisgrenzwerte, die je nach Häufigkeit des betrachteten Störfalles zur Anwendung kommen. Für sehr seltene Unfälle der Störfallkategorie 3, die sich höchstens zwischen einmal pro 10’000 und einmal pro 1’000’000 Jahren ereignen, gilt der Grenzwert von 100 Millisievert. Bei weniger seltenen Störfällen der Störfallkategorie 2 mit Häufigkeiten von 1:100 bis 1:10‘000 reduziert sich der Grenzwert auf 1 mSv. Für Betriebsstörfälle der Störfallkategorie 1, welche auch häufiger als 1 Mal pro 100 Jahren auftreten können, liegt der Grenzwert noch einmal tiefer bei 0,3 Millisievert.

Georges Piller, Leiter des Fachbereichs Strahlenschutz beim ENSI zieht dazu einen Vergleich: „In der Schweiz nimmt jede Person durchschnittlich pro Jahr eine Strahlendosis von 5,5 Millisievert auf.“ Davon stammen 1,2 von der medizinischen Diagnostik, der Rest ist natürlichen Ursprungs: kosmische und terrestrische Strahlung, Radon in Gebäuden sowie Radionuklide im menschlichen Körper.

 

Artikel 1 Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kernanlagen:Auslegungsstörfall: Störfall, bei dem durch auslegungsgemässes Verhalten der Sicherheitssysteme keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stoffe und keine unzulässige Bestrahlung von Personen auftreten. Die Gesamtheit der Auslegungsstörfälle kann in folgende Kategorien eingeteilt werden:1. Störfälle der Kategorie 1: Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-1 und grösser als 10-2 pro Jahr.2. Störfälle der Kategorie 2: Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-2 und grösser als 10-4 pro Jahr.

3. Störfälle der Kategorie 3: Störfälle mit einer Häufigkeit kleiner gleich 10-4 und grösser als 10-6 pro Jahr.

 

Die Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kernanlagen schreibt vor, dass der Betreiber „für den Nachweis des ausreichenden Schutzes gegen durch Naturereignisse ausgelöste Störfälle Gefährdungen mit einer Häufigkeit grösser gleich 10-4 pro Jahr zu berücksichtigen und zu bewerten“ hat. „Das 10‘000-jähliche Erdbeben ist das extremste Erdbeben das betrachtet werden muss“, hält Georg Schwarz fest. Für die Nachweise gilt folglich der Grenzwert der seltensten Kategorie, der Störfallkategorie 3.

Schweizer Grenzwerte von internationaler Expertenkommission überprüft

Das Vorgehen der Schweiz bei der Auswahl des anwendbaren Grenzwertes wurde von einer internationalen Expertenkommission der Internationalen Atomenergieagentur IAEA im letzten November überprüft. Die Experten kamen zum Schluss, dass “der ganze Prozess, wie er vom ENSI angewendet wird, internationaler Praxis entspricht und mit den Richtlinien IAEA NS-R-1, SS2-G und NS-G-1.2. übereinstimmt.” Zur Höhe der anwendbaren Grenzwerte bemerkten die Experten: “Es muss angemerkt werden, dass die Dosislimite von 1 Millisievert in der Störfallkategorie 2 (Häufigkeit zwischen 10-2 und 10-4 pro Jahr) im Vergleich zu internationalen Standards tief ist.”

KNS regt Klärung des Regelwerks an

Die Kommission für Nukleare Sicherheit KNS hat in ihrem Bericht „Reaktorkatastrophe von Fukushima – Folgemassnahmen in der Schweiz“ im April dieses Jahres angeregt, die Grenzwertzuordnung im Kontext des geltenden Regelwerks zu überprüfen. „Für die KNS steht nicht die Dosislimite im Vordergrund, welche gemäss aktuellem gültigem Regelwerk einem 10‘000-jährlichen Erdbeben zugeordnet ist. Vielmehr geht es darum, die Systematik im schweizerischen Regelwerk zu klären“, erklärt KNS-Präsident Bruno Covelli. Diese Fragestellung ergebe sich daraus, dass die 10‘000-jährlichen Ereignisse auf der Grenze zwischen den Störfallkategorien 2 und 3 liegen. Da die Anforderungen an die Kraftwerke mit abnehmender Häufigkeit eines Ereignisses steigen, sei das 10’000-jährliche Ereignis hinsichtlich sicherheitstechnischer Anforderungen abdeckend für Störfälle der Kategorie 2 und müsste nach üblichen Regeln der konservativen Nachweisführung dieser Kategorie zugewiesen werden.

Die Vorgabe des ENSI, bei den Nachweisen für das Auslegungserdbeben den Dosisgrenzwert von 100 Millisievert für die radiologischen Auswirkungen anzuwenden, entspreche dem Wortlaut der „Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kernanlagen“ sowie der historisch gewachsenen Usanz, räumt Covelli ein.