Gegenseitiger Respekt ist Dreh- und Angelpunkt der Arbeit des ENSI

Der „Filz-Vorwurf“ ist die plakativste Form, um die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI schlechtzumachen. Er taucht immer mal wieder auf, was bedeutet, dass wir offensichtlich damit leben müssen.

Es liegt in der Natur unserer Aufsichtsfunktion, dass wir zu den Betreibern der Kernkraftwerke (oder zur Nagra) und deren Mitarbeitern einen professionellen Kontakt pflegen. Unsere wissenschaftlichen Experten tauschen sich mit den Spezialisten in den Werken aus. Sie lassen prüfen, sie stellen Fragen, sie prüfen Berichte, sie fordern Ergänzungen. Und ja – sie sind durchaus in der Lage, auch mal der fachlichen Argumentation des Gesprächspartners zu folgen und zuzustimmen.

Die Frage ist, welche Arbeitshypothese wir unserer Aufsichtsfunktion zugrunde legen. Zwei Varianten stehen zur Wahl: Entweder „Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher“ oder „die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher.“

Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.

Wenn das ENSI also Verfügungen erlässt, Sicherheitsnachweise einfordert, Berichte der Werke überprüft, eigene Berechnungen anstellt und Kontrollen aller Art durchführt, dann tun wir dies auf der Basis eines enormen Wissens, tausender Datensätze und nicht zuletzt der beachtlichen Erfahrung unserer Experten. Dank unserer vielfältigen internationalen Beziehungen können wir unsere Resultate und Erfahrungen auch vergleichen, mit dem was die Spezialisten in anderen Ländern tun – damit wir immer auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik sind.

Vor diesem Hintergrund können wir es uns leisten, gegenüber allen Stakeholdern eine Haltung einzunehmen und eine Arbeitsatmosphäre zu pflegen, die grundsätzlich nicht von Misstrauen geprägt ist. Gegenseitiger Respekt ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit.

Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass nicht alle unsere Gesprächspartner in den Werken diese Selbsteinschätzung teilen. Man empfindet uns zuweilen als lästig, pingelig und manchmal auch formal. Doch die Nuklearindustrie unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von anderen Branchen: Die Werke müssen wieder und wieder neue Sicherheitsnachweise erbringen, müssen aufgrund neuer Erkenntnisse und Ereignisse belegen, dass sie auch die unwahrscheinlichsten Situationen oder Störfälle so meistern, dass sich daraus nicht ein Ereignis entwickeln kann, das zu einer Gefährdung von Mensch und Umwelt führt.

Dabei ist es geradezu normal, dass wir uns mit dem, was uns die Werke an Analysen liefern, nicht immer zufriedengeben können. Nachforderungen für weitere Messwerte, für Neuberechnungen und zusätzliche Analysen, sind geradezu normal und oftmals mit zähen Diskussionen verbunden.

Keine Frage, wo Menschen arbeiten, werden auch Fehler gemacht. Dabei stellt sich immer die Frage, ob der festgestellte Fehler systemimmanent ist, einer Fehlannahme oder schlicht einem Rechnungsfehler geschuldet ist. Solange Fehler nicht eine greifbare Beeinträchtigung der Sicherheit einer Anlage darstellen, können sie korrigiert werden. Wir sehen deswegen keinen Grund, die Kompetenz unserer Gesprächspartner grundsätzlich zu bezweifeln oder die Spezialisten der Werke bei divergierenden Einschätzungen oder Fehlern gar öffentlich an den Pranger zu stellen.

Man mag dies als „Filz“ bezeichnen, wenn sich das ENSI im Ermessensspielraum bewegt. Wir nennen das Professionalität. Denn es ist wichtig, dass wir im Einvernehmen und nicht mit Gezänk und Misstrauen unsere Aufsichtsfunktion wahrnehmen, weil nur so die Grundlage für eine offene Darstellung der Fakten gebildet werden kann. Im Interesse der Sicherheit der Menschen in diesem Land.

Hans Wanner
Direktor ENSI

 

PS: Der IAEA-Safety Standard GSR Part 1 (Governmental, Legal and Regulatory Framework for Safety General Safety) ist so etwas wie die Bibel der Atomaufsichtsbehörden weltweit. In Requirement 21 widmet sie sich dem Verhältnis zu den Beaufsichtigten (“Liaison between the regulatory body and authorized parties”):

“The regulatory body shall establish formal and informal mechanisms of communication with authorized parties on all safety related issues, conducting a professional and constructive liaison.
4.23. As its primary purpose, the regulatory body shall carry out oversight of facilities and activities. The regulatory body, while maintaining its independence, shall liaise with authorized parties to achieve their common objectives in ensuring safety. Meetings shall be held as necessary to fully understand and discuss the arguments of each party on safety related issues.
4.24. The regulatory body shall foster mutual understanding and respect on the part of authorized parties through frank, open and yet formal relationships, providing constructive liaison on safety related issues.”