„The Buck Stops Here“

Letzthin hat mir ein Mitarbeiter ein Bild von Harry S. Truman aufs Pult gelegt. Der ehemalige Präsident der USA sitzt am Schreibtisch. Vor ihm ein Schild: „The buck stops here.“ Frei übersetzt heisst der Spruch: „Hier muss entschieden werden – die Verantwortung kann nicht weitergegeben werden.“ Dieses Motto trifft den Kern der Aufgabe des ENSI.

Bild: trumanlibrary.org

Es ist unser Job, immer wieder auch heikle sicherheitstechnische Entscheide zu fällen. Es wird letztlich auch am ENSI sein, zu entscheiden, wann die Schweizer Kernkraftwerke tatsächlich vom Netz gehen müssen – falls die Betreiber dies nicht vorher aus wirtschaftlichen Überlegungen tun oder die Politik eine frühere Stilllegung beschliesst.

Wir sind uns beim ENSI bewusst, welch grosse Verantwortung wir damit tragen. Doch wir stehen auf dem soliden Boden der Schweizer Gesetzgebung. Das ENSI ist die Aufsichtsbehörde über die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke. Die einzige. So will es das Gesetz und so ist es auch international üblich. Das Schweizer Regelwerk setzt klare Rahmenbedingungen für die Sicherheit der Kernkraftwerke, inklusive konkreter Kriterien, wann ein Kernkraftwerk abgeschaltet werden muss. Tatsächlich gibt es aber auch Bereiche mit einem gewissen Spielraum. In diesen Bereichen gilt gemäss Gesetz der Grundsatz der Angemessenheit und Verhältnismässigkeit.

Wir machen uns unsere Entscheide deshalb nicht leicht. Sie sind das Resultat eines sorgfältigen Prozesses, in dem wir unsere Beurteilungen immer wieder kritisch hinterfragen. Wir befinden uns in einem permanenten Zweit- und Drittmeinungsprozess. Wir tun das nicht nur selbst mit eigenen Expertenteams, sondern holen uns zusätzliche Expertise auch von aussen – im In- und Ausland.

Wertvoll, und für die in unserem Land gelebte Sicherheitskultur wichtig, sind nicht zuletzt auch Einschätzungen und Wertungen, die von unseren Beurteilungen abweichen. Diese andere Sichtweise kann neue Erkenntnisse bringen oder mindestens unsere eigene Argumentationslinie schärfen, was im Endeffekt wieder der Sicherheit zugutekommt.

Der Prozess bis zum Entscheid ist immer komplex und häufig sehr zeitaufwändig. Dies beginnt schon bei den Kernkraftwerkbetreibern. Sie sind verantwortlich für die Sicherheit ihrer Anlage und für deren sicheren Betrieb. Wir verlangen, dass sie die Sicherheit ihres Werks immer wieder aufs Neue nachweisen und ein umfangreiches Qualitätsmanagement betreiben. Bei der Analyse eines Sachverhalts und bei der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen zuhanden der Aufsichtsbehörde stützen sich die Betreiber häufig auf externe Spezialisten ab oder lassen ihre Ergebnisse durch unabhängige Experten noch einmal überprüfen.

Diese bereits heute praktizierte, unabhängige Überprüfung der Analyse des Kraftwerksbetreibers soll in Zukunft formalisiert und für verbindlich erklärt werden.

Die beim ENSI eingereichten Beurteilungen der Betreiber werden durch unsere Fachexperten auf ihre technische und wissenschaftliche Richtigkeit überprüft. Das ENSI zieht dabei regelmässig externe Experten bei: Von ständigen Partnerfirmen wie dem Schweizerischen Verein für Technische Inspektionen (SVTI), ständigen Begleitgremien wie die Expertengruppe Reaktorsicherheit, bis hin zu fallweise engagierten in- und ausländischen Spezialisten und Organisationen.

Alle diese fachtechnischen Beurteilungen – und auch kritischen Fragen–- müssen in den Prozess der Entscheidfindung einfliessen, bevor eine endgültige Beurteilung vorgenommen wird. Nur dann können sie den Entscheid beeinflussen. Kommt eine abweichende Beurteilung erst auf den Tisch, nachdem das ENSI seinen Entscheid gefällt hat, ist ihre Wirkung abgeschwächt oder gar problematisch: sie trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung und der Politik bei. Diese fragen sich dann zu Recht: „Was gilt denn jetzt?“

Deshalb empfiehlt das internationale IRRS-Expertenteam, das im Auftrag der IAEA das Schweizer Aufsichtssystem vor rund einem Jahr begutachtet hat, die Kommission für Nukleare Sicherheit (KNS) solle ihre fachtechnische Stellungnahme zu Gutachten des ENSI bereits in der Phase des Entwurfs einbringen, also noch während des laufenden Entscheidfindungsprozesses.

In dieselbe Richtung argumentiert auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zur Motion von Nationalrat Geri Müller (Grüne, AG) für eine zweite Aufsichtsbehörde: „Eine öffentliche Beratung abweichender Darstellungen und Beurteilungen sicherheitsrelevanter Sachverhalte durch verschiedene Aufsichtsinstanzen, die auf den Schiedsentscheid einer dritten Instanz hinauslaufen würde, wäre nicht zielführend.“

Dabei geht es keineswegs darum, abweichende Meinungen zu übergehen oder gar unter den Tisch zu wischen. Die IRRS-Empfehlung sagt richtigerweise, die Stellungnahme der KNS müsse frühzeitig und völlig transparent erfolgen. Wenn das ENSI die Meinung der KNS dann nicht in sein abschliessendes Gutachten aufnimmt, müsse ausführlich begründet werden, weshalb dies nicht gemacht wurde.

Zur weiteren Erhöhung der Transparenz haben wir im Nachgang zum ENSI-Forum Anfang September das „Technische Forum Kernkraftwerke“ initiiert: Hier sollen alle interessierten Stakeholder Einsitz nehmen, von den Gemeinden und Kantonen über die Nichtregierungsorganisationen bis zu den Betreibern und den involvierten Behörden. Sie sollen alle Fragen rund um die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke diskutieren, welche die Bevölkerung beschäftigen. Alle diskutierten Fragen und Antworten, inklusive der Protokolle der Sitzungen des Forums, werden via Internet für die Öffentlichkeit einsehbar sein.

Ich bin überzeugt: Mit diesem neuen Technischen Forum und der transparenten Diskussion der wichtigsten sicherheitstechnischen Themen werden unsere Entscheide in der verbleibenden Betriebszeit der Schweizer Kernkraftwerke auch für eine breitere Öffentlichkeit besser nachvollziehbar.

Hans Wanner
Direktor ENSI