Klassische und bruchmechanische Methoden zur Bestimmung der Versprödung des Reaktordruckbehälters

Kerbschlagprobe im Zäh-Spröd-Übergangsbereich
Kerbschlagprobe im Zäh-Spröd-Übergangsbereich

Für die Bestimmung der Bruchzähigkeit der Werkstoffe des Reaktordruckbehälters stehen den Betreibern gemäss dem Schweizer Regelwerk mehrere Methoden zur Verfügung. Während bei der älteren Kerbschlagbiegeversuchs-Methode die Bruchzähigkeit indirekt bestimmt wird, liefern die modernen bruchmechanischen Methoden genauere Resultate.

Bestimmte grosse Komponenten eines Kernkraftwerks können nicht ausgetauscht werden. Dazu gehört insbesondere der Reaktordruckbehälter (RDB), welcher den Reaktorkern mit den Brennstäben umschliesst. Der Kernbereich des RDB ist der Strahlung mit energiereichen Neutronen ausgesetzt. Diese Bestrahlung führt im Laufe der Betriebszeit zu einer Abnahme der Zähigkeit des Stahls. Das Material im Kernbereich des RDB versprödet und wird dadurch mechanisch weniger belastbar.

Sprödbruch

Metalle brechen in der Regel erst, nachdem sie sich unter Belastung verformt haben. Der Sprödbruch kann hingegen zu einem plötzlichen Materialversagen führen, bei dem es vorgängig nicht oder kaum zu einer Verformung gekommen ist. Er tritt vor allem bei harten und spröden Materialien auf.
In der Ausserbetriebnahmeverordnung des UVEK nimmt die Versprödung des Reaktordruckbehälters eine zentrale Rolle ein. Die Verordnung legt fest, wann ein Kernkraftwerk abgeschaltet werden muss. Ist ein solches Ausserbetriebnahmekriterium erfüllt, muss das Kraftwerk „unverzüglich vorläufig ausser Betrieb genommen“ werden. Um das Alterungsphänomen Strahlungsversprödung überwachen und vorhersagen zu können, wurden bei der Inbetriebnahme des Kraftwerks so genannte Voreilproben in den Reaktor eingehängt. Da diese näher am Reaktorkern sind als die Wand des Reaktordruckbehälters, verspröden die Voreilproben schneller. Damit kann die Zähigkeit der Materialien des RDB vorherbestimmt werden, obwohl der RDB selbst diesen Materialzustand erst in zehn oder zwanzig Jahren erreichen wird.

Um die Alterung zu überwachen und die Versprödung vorhersagen zu können, muss der Betreiber periodisch die aktuelle justierte Sprödbruch-Referenztemperatur des Reaktordruckbehältermaterials bestimmen.

Sprödbruch-Referenztemperatur

Die Sprödbruch-Referenztemperatur dient als Mass für die Strahlungsversprödung der RDB-Materialien. In der Ausserbetriebnahmeverordnung des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK ist für die Schweizerischen Anlagen als oberer Grenzwert eine Referenztemperatur von 93° Celsius festgelegt. Bei der Festlegung dieses Grenzwertes wurde eine Sicherheitsmarge gegen Sprödbruchversagen berücksichtigt.

Versprödung des Reaktordruckbehälters

Art. 4 Verordnung des UVEK über die Methodik und die Randbedingungen zur Überprüfung der Kriterien für die vorläufige Ausserbetriebnahme von Kernkraftwerken:

1 Der Bewilligungsinhaber hat die aktuelle justierte Sprödbruch-Referenztemperatur und die aktuelle Hochlagenenergie des Reaktordruckbehältermaterials aus Kerbschlagbiegeversuchen oder bruchmechanischen Versuchen periodisch zu bestimmen.

2 Als anerkannte Regeln der Technik zur Bestimmung der aktuellen justierten Sprödbruch-Referenztemperatur und der aktuellen Hochlagenenergie aus Kerbschlagbiegeversuchen oder bruchmechanischen Versuchen gelten die Normen der USNRC.

3 Der Bewilligungsinhaber hat das Kernkraftwerk unverzüglich vorläufig ausser Betrieb zu nehmen, wenn:

a. die aktuelle justierte Sprödbruch-Referenztemperatur von der Innenwand in einer Tiefe von einem Viertel der Wanddicke den Wert von 93 ºC erreicht; oder

b. die aktuelle Hochlagenenergie aus Kerbschlagbiegeversuchen unter 68 Joule absinkt.

Methode 1: Bestimmung der Bruchzähigkeit aus Kerbschlagbiegeversuchen

Der Kerbschlagbiegeversuch ist das klassische Verfahren, um die Zähigkeitseigenschaften von Werkstoffen zu bestimmen. Der einfache Versuch wird seit über hundert Jahren in der Industrie angewendet. Bei dem Versuch wird eine Werkstoffprobe an einer Seite mit einer Kerbe versehen und mit einem Pendelhammer zerschlagen. Die von der Probe aufgenommene Energie ist ein Mass für die Kerbschlagzähigkeit des Materials. Die Kerbschlagzähigkeit hängt unter anderem von der Probenform und -grösse ab und kann deshalb nicht unmittelbar auf grosse Bauteile übertragen werden. Der Wert wird deshalb mit einer empirischen Methode in die Bruchzähigkeit umgerechnet.

Methode 2-A: Bestimmung der Bruchzähigkeit aus bruchmechanischen Versuchen

Heute werden von den Fachexperten die modernen bruchmechanischen Methoden angewendet, da diese werkstoffkundlich begründet und weitgehend unabhängig von der Grösse der Werkstoffproben sind. Die Versuche basieren auf Proben, in denen ein Schwingungsriss eingebracht ist. Beim Zerreissen der Probe werden verschiedene Messgrössen aufgenommen, aus denen die Bruchzähigkeit direkt bestimmt werden kann.

Moderne Methode ist genauer

Die Auswertung der klassischen Kerbschlagbiegeversuche führt zu sehr konservativen unteren Grenzkurven für die Bruchzähigkeit, da bestimmte Einflüsse und Ungenauigkeiten berücksichtigt werden müssen, wie beispielsweise die Form und Grösse der Probe. Bei den bruchmechanischen Versuchen mit angerissenen Proben ist dagegen eine direkte Übertragbarkeit der Bruchzähigkeit auf das Bauteil möglich. Die bruchmechanische Methode ermöglicht deshalb genauere Aussagen zum wirklichen Zustand des Stahls des Reaktordruckbehälters.

Betreiber muss den Nachweis erbringen

Es ist die Pflicht des Kernkraftwerkbetreibers nachzuweisen, dass die Materialien im Kernbereich des RDB den Grenzwert der Referenztemperatur von 93° Celsius nicht überschreiten. Der Betreiber kann diesen Nachweis entweder mit der sehr konservativen klassischen Kerbschlagbiegeversuchs-Methode oder mit der modernen und genaueren bruchmechanischen Methode erbringen. Das ENSI verlangt, dass die Untersuchungen von einem akkreditierten Prüflabor durchgeführt werden. Im Rahmen der Untersuchungen kann die Aufsichtsbehörde Inspektionen durchführen, um zu prüfen, dass die Qualitätsanforderungen eingehalten werden.

Sprödbruchübergangsreferenztemperaturen KKW Mühleberg

Werkstoff  RDB-Position Neutronenfluenz (E>1MeV)[cm-2] Sprödbruchübergangs-referenztemperatur RTref [oC] 
Grundmaterial Innenoberfläche 6.51E+18 17
1/4 Wandtiefe 5.14E+18 14
Schweissmaterial V2 auto Innenoberfläche 1.89E+18 61
1/4 Wandtiefe 1.49E+18 54
Schweissmaterial V3 manu Innenoberfläche 6.29E+18 -3
1/4 Wandtiefe 4.97E+18 -5

Die Werte gelten für 60 Betriebsjahre des Kernkraftwerks Mühleberg (Werte aus drei Probensätzen)

Sprödbruchübergangsreferenztemperaturen KKW Beznau 1

Werkstoff RDB-Position Neutronenfluenz (E>1MeV)[cm-2] Sprödbruchübergangs-referenztemperatur RTref [oC]
Schmiedering C Innenoberfläche 5.59E+19 80
1/4 Wandtiefe 3.55E+19 74
Schmiedering D Innenoberfläche 5.59E+19 52
1/4 Wandtiefe 3.55E+19 47
Schweissmaterial Innenoberfläche 5.59E+19 42
1/4 Wandtiefe 3.55E+19 39

Die Werte gelten für 60 Betriebsjahre des Kernkraftwerks Beznau 1 (Werte aus sechs Probensätzen)

Sprödbruchübergangsreferenztemperaturen KKW Beznau 2

Werkstoff RDB-Position Neutronenfluenz (E>1MeV)[cm-2] Sprödbruchübergangs-referenztemperatur RTref [oC]
Schmiedering C Innenoberfläche 5.07E+19 51
1/4 Wandtiefe 3.22E+19 46
Schmiedering D Innenoberfläche 5.07E+19 -1
1/4 Wandtiefe 3.22E+19 -5
Schweissmaterial Innenoberfläche 5.07E+19 40
1/4 Wandtiefe 3.22E+19 36

Die Werte gelten für 60 Betriebsjahre des Kernkraftwerks Beznau 2 (Werte aus fünf Probensätze)

Sprödbruchübergangsreferenztemperaturen KKW Gösgen

Werkstoff RDB-Position Neutronenfluenz (E>1MeV)[cm-2] Sprödbruchübergangs-referenztemperatur RTref [oC]
Schmiedering I Innenoberfläche 1.4E+19 31
1/4 Wandtiefe 8.3E+18 27
Schmiedering II Innenoberfläche 1.4E+19 33
1/4 Wandtiefe 8.3E+18 28
Schweissmaterial Innenoberfläche 1.4E+19 10
1/4 Wandtiefe 8.3E+18 6

Die Werte gelten für 60 Betriebsjahre des Kernkraftwerks Gösgen (Werte aus drei Probensätzen)

Sprödbruchübergangsreferenztemperaturen KKW Leibstadt

Für das Kernkraftwerk Leibstadt ergaben die bisherigen Messungen keine wesentliche Erhöhungen der Sprödbruch-Referenztemperatur für die Materialien im Kernbereich des Reaktors, da die Neutronenfluenzen wesentlich niedriger sind als in den anderen Schweizerischen Kernkraftwerken.